Zwei Fachleute aus der Region äussern sich zur Zukunft der AHV
Bekanntlich funktioniert die AHV nach dem Umlageverfahren. Das heisst: Die in einem Jahr eingenommenen Beiträge von den Erwerbstätigen werden innerhalb der gleichen Zeitperiode an die Rentenbezüger wieder ausgegeben. Nur Einnahmen, welche die Rentenauszahlungen übersteigen, werden angespart. Dies hat zur Folge, dass die Einnahmen nicht zwingend mit den Ausgaben übereinstimmen. Grundsätzlich sind die Renten kurzfristig gesichert. Dennoch ist die langfristige Finanzierung der AHV vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklungen unklar.
Eine Studie des Bundes geht davon aus, dass sich das jährliche Defizit bis 2025 auf 7 Milliarden Franken erhöhen könnte. Das Bundesamt für Statistik (BFS) geht in seinem Szenario davon aus, dass die im Jahr 2030 65-jährigen Männer durchschnittlich 86 Jahre alt werden und die Frauen zirka 89. Dies hat zur Folge, dass die Rentner im Jahr 2030 im Durchschnitt zu den letzten Szenarien zwei Jahre länger finanziert und damit mehr Renten ausbezahlt werden müssen. Um den Generationenbestand zu sichern, wären 2,1 Kinder im Schnitt erforderlich. Laut einer Prognose der Credit Suisse wird die Geburtenrate von Schweizer Frauen in den nächsten Jahrzehnten jedoch auf 1,2 Kinder abnehmen. Vor diesem Hintergrund drängen sich natürlich viele Fragen auf, die wir mit Fabian Thommen – eidg. dipl. Pensionskassenleiter, Geschäftsführer der TRANSPARENTA Sammelstiftung für berufliche Vorsorge und CEO der DR. MARTIN WECHSLER AG – und Martin Wechsler – Hauptprojektleiter der Nationalfondsstudie «Soziale Sicherung nach 2000» – aufgegriffen haben.
Herr Thommen, Herr Wechsler, was können Sie über die momentane und zukünftige Problematik der AHV erzählen?
Das schweizerische Drei-Säulen-Konzept mit AHV, beruflicher Vorsorge und privatem Sparen ist ein internationales Vorzeigemodell. Doch insbesondere die demographische Entwicklung und damit die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern bedroht die finanzielle Stabilität der Vorsorgesysteme. Der so gennannte Altersquotient verdeutlicht dies. Er gibt an, wie viele Personen im Rentenalter auf je 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64) kommen. Lag diese Zahl für die Schweiz vor 20 Jahren noch bei zirka 25, das sind vier Erwerbstätige pro Rentnerin oder Rentner, beträgt sie heute noch rund 30 und wird sich gem. Bevölkerungsszenario des Bundesamts für Statistik bis ins Jahr 2050 gegen 50 erhöhen. Erwerbstätige sind gleichbedeutend mit Beitragszahlern. Als verstärkender Faktor kommt hinzu, dass es nicht nur mehr Rentenbezüger gibt, sondern diese auch immer älter werden und somit länger Rente beziehen. Betrug die geschlechtergemischte mittlere Rentenbezugsdauer bei der Ein- führung der AVH im Jahre 1948 rund 13 Jahre, müssen mittlerweile die Renten im Schnitt während 20 Jahren ausbezahlt werden. Und nimmt die Lebenserwartung weiterhin im gleichen Tempo zu, werden es im Jahr 2050 bereits gegen 25 Jahre sein.
Es stehen verschiedene Massnahmen zur Sicherung der AHV zur Verfügung. Soll man einfach die Renten kürzen?
Rentenkürzungen bei der AHV sehen wir nicht als realistisch und vor allem der wohlhabenden Schweiz nicht würdig. Bedenkt man, dass bereits heute jeder siebte Rentenbezüger auf Ergänzungsleistungen angewiesen ist, käme es letztlich auch nur zu einer Verschiebung innerhalb der Leistungserbringer.
Wie steht es um das Rentenalter?
Eine grundsätzliche Diskussion übers Rentenalter ist berechtigt. Die Erhöhung des Rentenalters ist auf den ersten Blick auch die einfachste und effizienteste Massnahme, denn sie spart doppelt: Man spart Rentenzahlungen, weil die Renten ein oder zwei Jahre später ausbezahlt werden und es ergeben sich Mehreinnahmen, weil die Erwerbstätigen länger arbeiten und somit länger AHV-Beiträge bezahlen. Die aktuellsten Zahlen der Neurentenstatistik lassen vermuten, dass sich diese Effekte in der Realität nicht wie erhofft einstellen: Heute gehen mehr Erwerbstätige (46.8 %) vorzeitig in Pension als im ordentlichen Rentenalter (44.7 %). Demnach betrug das durchschnittliche Pensionierungsalter der Männer 63.6 Jahre, das der Frauen 63.1 Jahre (Neurentenstatistik 2017). Die Statistik basiert auf den Bezügen der Pensionskassenrente und ist eine Vollerhebung der Steuerverwaltungen und daher besonders aussagekräftig.
Was lässt sich daraus schliessen?
Generell sollte für den Zeitpunkt der Pensionierung unterschieden werden, wer wie lange in die Systeme einbezahlt hat. Ein Handwerker, der seit der Lehre ununterbrochen durchgearbeitet hat, kann nicht mit einem Akademiker gleichgesetzt werden, der erst kurz vor 30 so richtig ins Erwerbsleben einstieg. Ansätze, welche in diese Richtung zielen, liegen bereits auf dem Tisch, wie z. B. die Einführung eines Referenzalters anstelle eines starren Pensionsalters bei der AHV.
Dies alleine bringt noch keine grundlegende Sanierung. Was ist mit höheren Lohnbeiträgen der Arbeitnehmer und -geber oder der Erhöhung der Mehrwertsteuer (MWST)?
Beide Massnahmen verfügen über den Vorteil, dass sie sich rasch umsetzen lassen, weil es sich um bewährte Systeme handelt. Wobei dies bei der MWST insofern nur bedingt gilt, weil die Bevölkerung über eine Verfassungsänderung zustimmen muss. Allerdings sind AHV-Lohnbeiträge für die Unternehmen Arbeitskosten und reduzieren damit die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Wirtschaft. Bei den Arbeitnehmern führt die Belastung durch steigende Lohnprozente zu sinkenden verfügbaren Einkommen und damit zu einer Reduktion von Konsumausgaben. Diese Kombination wirkt sich tendenziell negativ auf das wirtschaftliche Wachstum in der Schweiz aus. Ein grosser Vorteil einer Teilfinanzierung über die MWST ist, dass auch gut situierte Rentenbezüger über deren Konsum in die Finanzierung miteinbezogen werden. Doch auch im Allgemeinen erscheint es logisch und fair, dass in einer Welt mit endlichen Ressourcen diejenigen mehr zahlen, die auch mehr konsumieren und damit verbrauchen. Ein Problem sehen wir aber darin, dass eine allgemeine MWSt.-Erhöhung die tieferen Einkommen verhältnismäßig stärker trifft. Folglich müsste man wenigstens den reduzierten Satz (von heute 2.5 %) für Güter des täglichen Bedarfs von einer Erhöhung ausnehmen.
Weder länger arbeiten noch mehr einzahlen ist populär und Rentenkürzungen will auch niemand in Kauf nehmen. Sind wir in einer Sackgasse?
Etwas ganz Grundsätzliches geht oft vergessen. Der Soziologe und Statistiker Gerhard Mackenroth zeigte schon 1952 in seiner These auf, dass letztlich jeglicher Sozialaufwand einer bestimmten Periode aus dem Volkseinkommen derselben Periode geleistet werden muss. Transferleistungen müssen immer von den Erwerbstätigen an die Nichterwerbstätigen erbracht werden. Es gibt gar keine andere Quelle. Denken wir an den Unterhalt unserer Kinder, leuchtet das ein. Vor mehr als 100 Jahren, in gewissen Kulturen ist dies ja heute noch so, mussten in der Schweiz die direkten Nachkommen bzw. die Familie die Altersversorgung der Alten sicherstellen. Wer keine hatte, verarmte. Zum Glück ist dies heute nicht mehr so. Doch auch wenn wir die Familie durch nominale Rentenansprüche ersetzt haben, müssen trotzdem noch Erwerbstätige Güter herstellen und Dienstleistungen erbringen. Einzig die Robotisierung könnte hier in Zukunft teilweise Abhilfe schaffen. Ob wir das wollen, ist eine andere Frage.
Nach dieser These können auch die Pensionskassen nicht aus der Misere helfen?
Zumindest bezogen auf eine einzelne Volkswirtschaft nicht. Denn die oft gehörte Aussage, das Kapitaldeckungsverfahren sei unabhängig von der demografischen Entwicklung, stimmt gemäss der genannten Mackenroth-These so eben nicht. Und wenn wir das derzeitige Zinsniveau und die erwarteten Renditen in den entwickelten Weltregionen betrachten, scheint sich dies zu bestätigen. In einer alternden Gesellschaft trifft ein Überhang von investitionssuchenden Spargeldern auf eine immer geringere Nachfrage. Überall wo das Angebot die Nachfrage übertrifft, führt dies zu tieferen Preisen. Im Falle der Kapitalanlage sind dies einfach tiefere Erträge.
Bringen denn Pensionskassen mit dem Kapitaldeckungsverfahren in diesem Zusammenhand überhaupt noch einen Nutzen?
Ja, doch nur weil die Schweiz eben keine isolierte Insel ist. Das Kapitaldeckungsverfahren bringt den Vorteil mit sich, den Sparüberschuss auch gewinnbringend im Ausland investieren zu können. In produktive Länder, wo noch Wachstum herrscht wie etwa in Indien, China oder Brasilien. Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, müssen wir Renditen aus dem Ausland in die Schweiz holen. Das war auch der Kern unserer Idee, einen Teil der Devisenreserven der Schweizerischen Nationalbank langfristig zugunsten der AHV anzulegen. Zudem können Pensionskassen die Allokation des Vermögens organisieren. Es ist effektiver, wenn das eine Pensionskasse für viele macht, als wenn es jeder einzelne für sich tut. Pensionskassen helfen dabei, die Kaufkraft der einbezahlten Lohnabzüge durch Sachwertanlagen über die Zeit hinweg zu transferieren. Darum wird das Geld auch in Im-mobilien und Aktien oder die Infrastrukturfinanzierung angelegt. Und durch die Dividenden holt sich der Versicherte über seine Pensionskasse einen Teil des Gewinns der Firmen zurück, den er nicht als Lohn erhält.
Zurück zur AHV, welche Massnahmen würden Sie umsetzen?
Die gute Botschaft lautet, das Glas ist noch immer zu 80 Prozent voll, und wir können es wieder ganz füllen. Um dies zu tun, scheint eine ausgewogene Kombination aus allen Massnahmen wohl am effektivsten.
Text: JoW / Interview: Daniele Ciociola
ZU DEN PERSONEN
Fabian Thommen ist eidg. dipl. Pensionskassenleiter, Geschäftsführer der TRANSPARENTA Sammelstiftung für berufliche Vorsorge und CEO der DR. MARTIN WECHSLER AG, Experten für berufliche Vorsorge, Aesch. Das Unternehmen ist spezialisiert auf die Beratung von firmeneigenen Pensionskassen sowie Unternehmen und Institutionen.
Martin Wechsler hat bereits über die berufliche Vorsorge seine Dissertation geschrieben. Im Anschluss an seine Ausbildung zum Eidg. dipl. Pensionsversicherungsexperten gründete er 1986 sein eigenes Unternehmen für Pensionskassenberatung, wo er heute als Senior Berater tätig ist. Als Hauptprojektleiter der Nationalfondsstudie «Soziale Sicherung nach 2000» zeigte er erstmals die finanziellen Perspektiven der Schweiz im Bereich Sozialversicherung auf.
Analog zum Kulturprozent der Migros führt die DR. MARTIN WECHS-LER AG 1 % ihres Umsatzes in das Aloha-Prozent ab. Das Aloha-Prozent fliesst zur einen Hälfte in die individuelle Förderung der Mitarbeiter, die zweite Hälfte in gemeinnützige Projekte. Es erfolgen nur Direktvergaben an Betroffene, um einen hohen Wirkungsgrad zu erreichen. Des Weiteren hat das Unternehmen mit seinen Massnahmen zur Verbesserung der Gleichstellung von Frauen und Männern im Jahr 2013 den Chancengleichheitspreis beider Basel gewonnen.